Die Hitze steht förmlich in dem riesigen, schwarz-weiß gefliesten Tanzsaal in Berlin-Schöneberg. Es ist jedoch nicht der Sommer, der in diesem Raum für Schweißperlen sorgt. Die Vielzahl an tanzenden Menschen hier ist es, die den Raum tropisch aufheizt. Einen guten Blick auf den Kursleiter hat nur die erste Reihe. Dahinter stellen sich die Tänzer*innen entweder auf die Zehenspitzen, versuchen durch eine Lücke wenigstens die Grundidee mitzubekommen, oder drängeln sich ein bisschen nach vorne. Ich beobachte das Spektakel von der Garderobe aus, wo ich gerade die letzten Minuten meiner Schicht als Volunteer absitze. Es sind definitiv zu viele Menschen in diesem Workshop. Wenn ich es nicht bereits wüsste, würde ich mich fragen, was an diesem Workshop so besonders ist, dass er so viele Menschen anzieht …
Ich werde aus dem Beobachtungsmodus geweckt: Meine Ablösung für die nächste Schicht ist da. Perfektes Timing. Die Workshops sind gerade erst gestartet, ich habe also wohl noch nicht zu viel verpasst, um mich dazu zu mogeln. Nur zu welchem? Definitiv nicht zu dem überfüllten im Foyer.
Der Teilnahme-Magnet...
Ich halte mich bei Festivals an zwei Prinzipien, anhand derer ich entscheide, welchen Workshop ich besuche. Deshalb gibt es gerade gar keine Frage, in welchen der vier Räume ich nun eile, beide Kriterien (ich verrate sie erst am Ende) sind für den angestrebten Workshop erfüllt. Ich stehle mich möglichst unbemerkt an den Teilnehmenden in dem großen Saal mit den schwarz-weißen Fließen vorbei und spute die Treppen hinunter in den Keller. Leise schleiche ich mich durch die Tür in den Raum. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Es ist angenehm kühl und trotz des länglichen Schnitts und der kleinen Raumgröße, kann jede*r die Kursleitung genau beobachten. Im Vergleich zu dem Raum oben ist es fast ein bisschen leer: Nur neuneinhalb Pärchen üben hier gerade die ersten Schritte des Kurses ein. Angenehm. Aber auch ein bisschen schade! Warum sind die Teilnehmenden so ungleich zwischen den Workshops verteilt?
Es ist ein kleines Detail, das den Großteil der Forrozeir@s wie ein Magnet in den großen Foyer-Raum zieht: Das Label im Workshop-Plan: „Fortgeschritten“. Für den Raum im Keller steht dagegen „Beginner“ auf dem Programm. Auf allen Festivals und auch in den regulären Kursen tendiert der Großteil der Tanzenden in Richtung „Advanced“. In diesen Workshops findet man diverse Levels, von Leuten, die bereits 10 Jahre intensiv tanzen bis hin zu Leuten, die gerade so die Grundschritte drauf haben. Möchte man das als Veranstalter*in verhindern, bleibt kaum eine andere Möglichkeit als feste Gruppen einzuteilen. Bei den Hamburger Forró-Tagen läuft das schon seit geraumer Zeit so: Man meldet sich bereits für ein bestimmtes Level (und eine Rolle) an. Das funktioniert erwiesenermaßen prima. Noch schöner wäre es jedoch, wenn es auch anders funktionieren würde. Ich bin mir sicher, das könnte es – mit einem leicht veränderten Mindset.
Wissenshunger? Vergiss den Fallschirm nicht!
Jede Person, die einen Fullpass kauft, tut dies, um etwas Neues zu erfahren und mehr zu lernen. Das halte ich für fantastisch. Ich liebe es Wissenshunger zu beobachten! Ich vermute, er ist es auch, der die Leute in die fortgeschrittenen Workshops treibt. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass in den Grund- und Mittelstufen-Workshops eine bekannte Idee, Figur, oder Technik drankommt, umso größer, je länger man tanzt. Man will aber ja etwas Neues lernen, vor Herausforderungen gestellt werden. Nur das bringt einen weiter! Oder?
Stopp! Nicht so schnell. Kann man sich wirklich nur in fortgeschrittenen Workshops Herausforderungen stellen und stößt man nur dort auf neue Erkenntnisse? „Ja klar, ein bisschen was lernt man wahrscheinlich immer! Aber es ist einfach irgendwann nicht mehr so reichhaltig an neuen Erkenntnissen“, höre ich Dich sagen. An diesem Punkt können wir starten, das Mindset umzubauen. Es gibt einen Spruch, der hier gut passt: „Your mind is like a parachute, it just works, when it‘open!“ Die Informationen, die auf die Teilnehmer*innen eines Workshops (egal ob Anfänger*in oder fortgeschritten) einprasseln, sind die gleichen. Eine riesige Menge an Informationen, die zu neuen Erkenntnissen beitragen könnten, wird jedoch nicht genutzt. Am Anfang ist es einfach, sich zu verbessern: Die Informationen werden in angenehmen Wissenspaketen abgepackt auf dem Präsentierteller serviert. Danach muss man schon aktiv nach Wissenslücken suchen, um sich zu verbessern. Deine Herausforderung als fortgeschrittenere*r Tänzer*in sollte es nun sein, an das unaufbereitete, unausgesprochene Wissen heranzukommen. Dafür muss man besonders aufmerksam sein, herumprobieren, Hypothesen aufstellen und Fragen stellen.
Die Kunst des Vergessens und der Tarnung
Dafür, behaupte ich, sollte man einen Teil des eigenen Vorwissens aufgeben und einen „weißen Gürtel tragen“. Der erfahrenste Judo-Großmeister tauscht beim Besuch eines Beginner-Kurses den schwarzen gegen den weißen Gurt. Er weiß, dass die mühsam ausgetretenen Nervenautobahnen neuen Ideen im Weg stehen könnten. Er geht als unbeschriebenes Blatt in den Workshop und sucht so ähnlich händeringend nach Informationen wie jemand, dem die Techniken das erste Mal begegnen.
Fortgeschrittene Tanzskills (wie Judo-Skills) bauen auf grundlegenderen Fähigkeiten auf, die wieder auf grundlegenderen Fähigkeiten aufbauen und so weiter. Um das hervorzuheben, heißen die Kurse meiner ersten Stufe auch konsequent „Grundlagen-Kurse“ (oder „Basics“) und man muss wenigstens zwei davon abgeschlossen haben, um auch an der nächsten Stufe der Forró-Pyramide (der Mittelstufe) bauen zu können. Wenn man dann jedoch aufhört an der Grundlage zu arbeiten, steht die Pyramide schnell auf dem Kopf. Diese Konstruktionsweise ist offensichtlich nicht darauf angelegt, nachhaltige Lerneffekte zu unterstützen. Irgendwann geht es da dann nicht mehr weiter. Das häufigste Symptom, das ich beobachte: gefühllose Leader und passive Follower, sowie ein Tanzen, welches mehr auf Automatismen denn auf Kreativität beruht. Details kann man erst dann lernen, wenn man die grundlegende Funktionsweise schon beherrscht. Es ist also durchaus schlau, das gleiche Thema, die gleiche Bewegung, immer wieder zu studieren, weil man immer wieder vorher unentdeckte Details entdecken kann.
Das Thema des Beginner-Workshops, den ich nun also besuche, ist eine Figur, die häufig „quebra braço“ genannt wird und eine Variante des Platzwechsels ist. Ich steige als Follower ein und bevor ich selbst etwas Neues ausprobiere, versuche ich zu verstehen, wie die Workshop-Leiterin die Technik sieht. Ich konzentriere mich zunächst auf das Timing, dann auf mein Gleichgewicht und versuche sie nachzuahmen. Dann variiere ich meine Schritte ein wenig. Grundlagen-Kurse sind gerade für Follower so praktisch, weil einfache Bewegungen (die viele Freiheiten ermöglichen) immer wieder wiederholt werden. Man kann also gut neue Variationen auschecken. In Abhängigkeit der Tanzpartner*in sollte man es aber auch nicht übertreiben: „Du musst abwechselnd einmal den linken Fuß und dann den rechten Fuß nach hinten nehmen!“, gibt mir mein Tanzpartner den Tipp, wie das mit dem Öffnen genau funktioniert. Meine Tarnung als Weißgurt scheint auf jeden Fall zu funktionieren. „Sorry!“, sage ich, „ich wollte nur kurz etwas ausprobieren.“ Ich verstecke meine Variationen von nun an ein bisschen mehr, schließlich möchte ich ihn nicht verwirren. Es ist immer ratsam, die Klarheit des Führens und Folgens an die Person anzupassen, mit der man tanzt.
Sei auf der Suche!
Wenn ich gefragt werde, helfe ich natürlich, aber ich bin da, um selbst etwas zu lernen. Das ist meine Herausforderung. Ich tauche in den Kurs ein und versuche zu vergessen, was ich bereits weiß. Zu viel eingefahrene Gedankengänge stehen neuen Kreationen und Erkenntnissen im Weg. Wenn ich an diesem Kurs teilnehme, versuche ich ein Beginner zu sein. Nicht nur im Vergleich zu Koryphäen wie Jaime Aroxa, die jahrzehntelange Erfahrung haben, sondern ein wirklicher Beginner. Das gelingt mir nicht immer gleich gut, aber ich versuche es immer.
Niemand kennt für auch nur eine einzige Bewegung die perfekte Technik, niemand kennt alle Variationen, niemand ist am Limit der möglichen Verbesserung angelangt. Oder woher sollte man wissen, dass man an dem Punkt angelangt ist, an dem man alles darüber weiß? Ich halte es für überaus wahrscheinlich, dass andere Tänzer*innen auf allen Schwierigkeitsstufen etwas wissen, das ich lernen kann. Alles andere finde ich nicht nur unrealistisch, sondern fast arrogant.
Fortgeschritene*r Tänzer*in
Know-How
Wissen bereits viele Dinge
Lernweise
Nutzen v.a. ausgetretene Pfade
Umgang mit Tipps
Probieren Tipps, die Ihnen gefallen
Gehirnaktivität
Mittel bis niedrig
Forró-Pyramide
Arbeiten vor allem an der Spitze
Interaktion
Haben mehr Antworten als Fragen
Komfortzone
Meist innerhalb
Tanz-Anfänger*in
Know-How
Wissen, dass sie nichts wissen
Lernweise
Probieren (notgedrungen) viel aus
Umgang mit Tipps
Stürzen sich auf alle Tipps
Gehirnaktivität
Am Rand zur Überforderung
Forró-Pyramide
Arbeiten an der Grundlage
Interaktion
Haben mehr Fragen als Antworten
Komfortzone
Ständig außerhalb
Anmerkung: Natürlich gelten die Eigenschaften dieser Kärtchen nicht für jede Person und sind ein bisschen überspitzt gegenüber gestellt. Sie dienen mehr zum Vergleich von Chancen und Risiken, beziehungsweise sollen die Vorteile des Beginner-Mindsets aufzeigen.
Es ist nicht die alleinige Verantwortung der Kursleitung, dass die Teilnehmenden etwas lernen. Der Fallschirm muss schon auch offen sein! Wenn man die Ideen der Lehrperson hernimmt und in diesem inhaltlich eng-gesteckten Rahmen der Stunde herumprobiert, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man mit neuen Erkenntnissen heraus spaziert.
So auch heute. Zwar will eine neue Schrittvariation nicht so richtig entstehen, jedoch macht es mir die Kursleitung leicht: Sie zeigt dem Kurs eine spezielle Armvariation, die man an einer bestimmten Stelle einbauen kann und die sich wunderbar variieren lässt. Sofort schießen mir neue Kombinations- und Variationsmöglichkeiten in den Kopf. Ich bin innerlich begeistert. Meinetwegen könnten wir das alles noch stundenlang weiter üben, es ist und wird einfach nicht langweilig.
Kurz darauf ist die Stunde leider trotzdem um. Besonders praktisch ist jedoch, dass ich bei der Party diverse Male die Chance bekomme, die neuen Erkenntnisse und Variationen anzuwenden. Basis-Bewegungen werden von den meisten Tänzer*innen beherrscht und in fast jedem Tanz angewendet. Gilt das für fortgeschrittene Themen und Figuren aus dem fortgeschrittenen Workshop auch? Sicher nicht im gleichen Maß. Zudem benötigen fortgeschrittene Inhalte nicht selten viel Platz, eine*n Tanzpartner*in mit entsprechenden Skills und halten nur wenige Gestaltungsmöglichkeiten für den Follower bereit.
Meine zwei Regeln für die Workshop-Wahl
Auch für Kursleiter*innen ist „das Tragen des weißen Gurtes“ übrigens empfehlenswert. Je mehr man an einer hohen Pyramide bastelt, desto weiter entfernt man sich zwischendurch von der Basis. Es kann passieren, dass man die Anfangsprobleme aus den Augen verliert und sich in die ersten Stufen nicht mehr hineinversetzen kann. Als Teilnehmer*in eines Beginner-Kurses steckt man dagegen mittendrin im Geschehen. Man merkt hautnah, welche Probleme entstehen und wie die Maßnahmen der Kursleitung funktionieren; man kann über Alternativen nachdenken.
Darüber hinaus merkt man in den Grundlagen-Kursen so gut wie auf keinem anderen Level, ob jemand ein*e gute*r Lehrer*in ist. In meinen vergangenen 9 Forró-Jahren haben sich deshalb zwei Grundregeln entwickelt, nach denen ich grob entscheide, in welchen Workshop ich gehe:
- Regel 1) besuche auf jedem Festival wenigstens einen Grundlagen-/Beginner-Workshop oder einen zuvor bereits besuchten Workshop (= trage den weißen Forró-Gürtel)
- Regel 2) wenn es einen Kurs mit einer Kursleitung gibt, die Du nicht kennst, besuche ihren Kurs (= suche nach neuen Ideen und Philosophien, die Deinem Konzept widersprechen)
Bei dem Rest der Workshops gehe ich danach, was mich am meisten anspricht, aber mit den beiden Kriterien als Zusatz bin ich dazu gezwungen alte Ideen nochmal aufzuwühlen und neue Perspektiven zu entdecken. Wir sind selbst dafür verantwortlich, etwas von den großartigen Künstler*innen mitzunehmen, die auf Forró-Events ihre Expertise in erreichbarer Nähe verfügbar machen. Und selbst, wenn man mal einen schwächeren Workshop erwischt: Existiert tatsächlich überhaupt nichts, was man daraus mitnehmen kann?
Die Legende besagt, dass Jigoro Kano, der Begründer des Judos, darauf bestand, mit dem Symbol des Beginners, mit einem weißen Gurt, begraben zu werden. Das ist mehr als ein Zeichen der Bescheidenheit. Es ist vielmehr eine Lehrstunde über das Leben und alles Lernen.
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