Vor ein paar Jahren habe ich eine cineastische Wissenslücke geschlossen und mir den Film ‘Matrix‘ angesehen. Ich fand den gruseligen Gedanken einer Matrix unangenehm und spannend zugleich.
Trotzdem hätte ich es damals nicht für möglich gehalten, dass ich mich selbst ab und an in einem solchen (oder so ähnlichen) Konstrukt bewegen würde. In einem Konstrukt, dessen Existenz und Einfluss ich nicht spürte. Und mit mir unzählige Andere, auch von ihnen wahrscheinlich die allermeisten ohne es zu ahnen.
Wie merkt man, dass man sich in einer Matrix befindet?
Wenn man das so einfach beschreiben könnte…
Ich hätte es wahrscheinlich auch nie gemerkt, hätten sich nicht in kurzer Zeit mehrere Merkwürdigkeiten angehäuft. Angefangen hat alles mit einem Forró-Video von Diandra & Lucas. Eine Freundin hatte es mir geschickt und mich auf die mysteriöse Art und Weise dieses Tanzes aufmerksam gemacht: Es schien so, als wäre neben dem Tanzpaar noch ein drittes, unsichtbares Medium im Raum, das den Tanz im Geheimen steuerte. Und es schien gar so, als könnten die Tanzenden sich über dieses Medium mit ihren Körpern ‘unterhalten’.
Und während immer offensichtlicher wurde, um was es sich bei diesem Medium handelte, nämlich um die Musik, hatte ich von einer möglichen ‘Matrix’ noch keinen Schimmer. Keinen Schimmer, obwohl sich später herausstellen sollte, dass wir bei jedem Forró-Event unausweichlich in ihr gefangen sind.
Playlisten-Wahnsinn und Spurensuche
Ich besorgte mir ein kleines graues Notizbüchlein und notierte fortan jede Auffälligkeit im Detail. Ich verbrachte ganze Nächte auf YouTube und analysierte jedes noch so unauffällige Augenbrauenzucken der Forró-Leader und -Follower. Ich erstellte weit über 100 penibel sortierte Playlists auf Spotify, um auch den musikalischen Mustern auf die Spur zu kommen. Auch wenn ich mich seit vielen Jahren intensiv mit Bewegung und Musik beschäftigte, gab es zu viel, was ich mir nicht erklären konnte. Diese Neugierde trieb mich an und brachte mich schließlich auf die Spur der Matrix.
Als erstes entdeckte ich die ‘Atome’ der Forró-Musik, also deren kleinsten Bestandteile. Diese Bestandteile konnte ich (als Klavier- & Akkordeonlehrer) aus der Musiktheorie ableiten und quasi von den Notenblättern ‘ablesen’. Schließlich können wir auf alles tanzen, was Musiker kreieren können. Logisch.
Spannender wurde es dann schon, als ich die Struktur der Musik unter die Lupe nahm. In jedem Ensemble müssen alle Musizierenden bestimmte ‘Kommunikationsregeln’ einhalten, damit die einzelnen Instrumente zusammenpassen. Und tatsächlich: diese (teilweise emergenten) Phänomene können wir als Tänzer*innen nutzen.
Doppelt praktisch, weil uns diese übergeordneten Muster auch helfen, die nächste Kategorie besser zu verstehen: musikalische Highlights. Das sind besonders hervorstechende Muster wie beispielsweise Pausen, auf die im Forró (zu Recht) viel Wert gelegt wird. Den Highlights folgen noch drei weitere extrem spannende Kategorien mit vielen unbekannten Punkten, auf die ich hier aus Platz- und Erklärungsgründen jedoch nicht näher eingehe.
Gefangen in der Matrix
Insgesamt bestehen die 6 Kategorien meines Matrix-Modells (hier klicken um anzuzeigen) aus 48 miteinander verwobenen Regelmäßigkeiten, die Musik und Bewegung verschmelzen lassen. Das Modell ist keine perfekte Abbildung der ‘tatsächlichen Matrix’ und kann es auch nicht sein. Sobald es neue Erkenntnisse gibt, wird es upgedated. Das ändert aber nichts daran:
Da die ‘tatsächliche’ Matrix alle Kombinationen aus Musik und Bewegung abdeckt und regelt, kann ihr niemand entfliehen, solange er oder sie Forró tanzt. Das bedeutet, sie existiert auch für alle diejenigen, die nichts oder wenig über sie wissen. Ihre Regeln, egal ob sie genutzt werden oder nicht, bestimmen wie musikalisch, wie abwechslungsreich, wie kommunikativ ein Tanz wird.
Dabei bestimmt das Wissen über diese Regelmäßigkeiten ob ein Tanz bewusst oder nur ‘zufällig’ musikalisch wird. Je mehr Tänzer*innen über die Matrix Bescheid wissen, desto verbundener sind ihre Bewegungen mit der Musik. Gleichzeitig ist ihr Tanz vielseitiger und variantenreicher. Forrozeir@s, die nicht über dieses Wissen verfügen, bleiben größtenteils ein Spielball der Matrix.
Wer nicht weiß, was er nicht weiß - tanzt nicht musikalisch.
“Das heißt man kann nicht musikalisch tanzen, wenn man die Matrix nicht kennt?! Das kann doch nicht sein, es gibt doch unabhängig von dieser Idee viele Tänzer*innen, die wahnsinnig musikalisch tanzen!”, höre ich Dich denken. Kann es aber doch.
Erstens: Diese musikalischen Tänzer*innen kennen zwar die Matrix nicht (als dieses Konstrukt/unter dieser Bezeichnung), aber die zugrunde liegenden Mechanismen existieren unabhängig von dem Matrix-Modell. Vor allem erfahrene Tänzer*innen haben einige dieser Mechanismen implizit beim Tanzen gelernt (nicht bewusst). Implizites Lernen ist wunderbar – und ist auch meine Basis bei jeder Tanzstunde – aber ohne Anleitung gibt es dabei einen großen Haken: Man entdeckt immer nur einen (auffälligen) Bruchteil. Den Großteil an musikalischen Mustern nimmt man dagegen nicht wahr, wenn man sie nicht entdeckt und/oder verstanden hat. Es fehlt also ein Teil – ohne dass man es merkt.
Zweitens: So wunderbare Forró-Denker*innen wie Sarah Collins, Fabio Reis und Tau Macedo haben einige der wichtigsten Muster (z.B. starker Beat, melodischer Rhythmus und Pausen) einer breiteren Masse sehr wohl verständlich gemacht. Diese Workshops haben in den letzten Jahren für eine unglaubliche Musikalisierung der Forró-Tänzer*innen in Europa gesorgt. Die Idee der Matrix baut auf den Ideen dieser Inspirator*innen und ist keine unabhängige Parallel-Theorie.
Wie kann ich mehr über die Matrix lernen?
Wenn Du die Musikalitäts-Matrix zu Deinen Gunsten nutzen möchtest und Dich innerhalb der Welt von Musik & Bewegung freier ausdrücken möchtest gibt es zwei Möglichkeiten:
- Versuche, die Forró-Musik mit den Ohren eines*r Wissenschaftler*in wahrzunehmen: Versuche Regelmäßigkeiten zu finden und teste diese dann auf ihre Verlässlichkeit. Wenn Du ein Muster auf die meisten Songs und Partner*innen anwenden kannst, hast Du wahrscheinlich einen Matrix-Punkt entdeckt!
- Alternativ lade ich Dich gerne in meinen Online-Musikalitätskurs ein, in dem das Matrix-Modell der rote Faden ist, an dem wir uns entlanghangeln. Die ‘wissenschaftliche’ Vorarbeit ist in diesem Fall schon erledigt und Du kannst von den mundgerechten Musikalitäts-Häppchen, die wir in diesem Kurs servieren, profitieren.
Ich schaue nach unten auf den Boden. Es sind dieselben schwarz-weißen Fliesen auf denen ich gestern, am ersten Tag des Festivals, schon getanzt hatte. Es liegt auch dieselbe animierende Energie in der sengend heißen Luft, angefacht von dem großartigen Sänger Edson Duarte, der auf der Bühne alles gibt.
Es liegt nicht an ihm, dass ich regungslos am Rand sitze und frustriert in die tanzende Menge schaue. Vielmehr ist da, wo sich an normalen Forró-Abenden zumindest ein wenig tänzerische Inspiration vorfindet, ein schwarzes Loch. Es läuft einfach nicht mehr. Und in dem Moment in dem ich das denke, ärgere ich mich über meine eigenen Gedanken. Das macht es aber eher schlimmer als besser.
Mein frustrierter Blick schweift über die Tanzfläche und bleibt bei einer befreundeten Forrozeira hängen. Sie tanzt gerade mit einem etwas kleineren Brasilianer, einem der Workshop-Leiter vom Vormittag. Die beiden sind mir auch bloß aufgefallen, weil sie kurzzeitig in überschwängliches Gelächter ausgebrochen waren. “Was war denn so lustig?”, frage ich mich. Ich beobachte die beiden weiter. Was sie tanzen, passt nicht so richtig in mein Forró-Konzept. Ist das überhaupt noch Forró? Ich kann kaum bekannte Figuren wiedererkennen, verstehe die Führungen nicht und warum die Verständigung irgendwie zu funktionieren scheint.
Je länger ich die beiden mit meinen Blicken verfolge, desto mehr erkenne ich wie sensationell gut diese Verständigung zu funktionieren scheint! Es sieht fast so aus als würden sich die beiden angeregt miteinander unterhalten – nur auf ‘Tänzerisch’. Woher kommt diese Kreativität? Warum sieht alles so wahnsinnig harmonisch aus?
Ich muss wohl ein bisschen zu sehr und zu lange mit offenen Augen und Mund auf die beiden gestarrt haben, denn auf einmal merke ich wie die beiden zu mir schauen und in meine Richtung lachen. Peinlich berührt versuche ich zurück zu grinsen.
Responses