Forró-Wettkämpfe?!

„Ja, war ganz ok – ich hatte ein bisschen Pech mit meinem Partner!“, antwortet meine flüchtige West-Coast-Swing-Bekanntschaft auf meine Frage, wie sich der soeben absolvierte Jack & Jill – Tanz für sie angefühlt hat. »Jack & Jill« (die bessere, aber weniger bekannte Bezeichnung ist eigentlich Mix & Match) ist eine Wettbewerbsform im Paartanz, in dem einem die Tanzpartner zugelost werden. 

„Hm …“- sage ich und versuche mit meiner Antwort gleichzeitig mein Verständnis und mein Unbehagen mit dem Gesagten auszudrücken. Irgendwie bestätigt ihre Aussage ein bisschen mein leicht komisches Gefühl, dass ich schon den ganzen Workshop-Tag (meinen ersten beim West-Coast) mit mir herumtrage: Die Leute sind freundlich und ich habe tolle Sachen über das Tanzen gelernt, aber die Stimmung ist irgendwie nicht, wie ich sie vom Forró kenne. Und langsam kann ich dieses Gefühl ein bisschen besser fassen: Es fehlt ein Stückchen der Wärme. Ich habe mir auf YouTube schon diverse Nächte um die Ohren geschlagen, mit Videos der unfassbar kreativsten West-Coast Jack & Jill – Tänze, die man sich vorstellen kann. Ich liebe Improvisation und manche Tänze sind einfach unglaublich genial. Die Veranstaltung, der ich aber nun beiwohne, hat wenig von diesem Glanz und der Kreativität der YouTube-Videos. Es tanzen eher Amateure und trotzdem (oder vielleicht genau deshalb?) merkt man, dass ein gewisses Vergleichsdenken in der Luft liegt. Es schwebt über den Köpfen, auch wenn im persönlichen Umgang alle sehr respektvoll miteinander umgehen. 

Eine Insel auf der man sich wenig vergleicht & weniger beurteilt (wird)...

Wahrscheinlich wäre mir das alles auch gar nicht aufgefallen, hätte ich es nicht beim Forró ganz anders kennengelernt. Schließlich leben wir in einer Welt, in der wir uns ständig vergleichen, mit anderen messen und einander beurteilen – in allen Lebensbereichen. Beim Forró hatte ich immer das Gefühl, dass das vom Grundgedanken her anders ist. Natürlich vergleicht man sich auch da hin und wieder – wir sind es eben nicht anders gewohnt – aber diese Vergleiche basieren öfter auf gegenseitiger Bewunderung und Neugierde als auf Konkurrenz. Ich komme aus dem Leistungssport, habe „Sport und Leistung“ studiert und schreibe meine Doktorarbeit gerade darüber, wie man schneller besser wird. Der Leistungsgedanke ist bei mir also durchaus auch indoktriniert. Aber wahrscheinlich war der Forró genau deshalb eine so lebensverändernde Entdeckung für mich, weil er eine Art Insel im leistungsorientierten Alltag darstellt.

Beim Forró gewinnt man keine Pokale, sondern neue Verbindungen. Es werden keine Auszeichnungen gesammelt, sondern schöne (Tanz-) Momente. Man lernt, um sich weiterzuentwickeln, nicht um besser zu sein als andere. Statt zu beeindrucken, versucht man zusammen zu genießen. Man feiert nicht nur sich selbst, sondern das Leben im Allgemeinen.

Show oder Gefühl?

Ich bin kein Brasilianer, aber so habe ich den Forró kennengelernt. Das impliziert auch, dass ich mich mit der Herkunft und der Geschichte des Forró auseinandergesetzt habe. Ich bin der Meinung, dass Forró-Wettkämpfe dieser Philosophie entgegenstehen. Der Forró kommt von einer sozialen, gemeinschaftlichen Tradition. Beim Fußball (meine andere Liebe) ist der Wettkampf implizit, beim Forró mit seinen Ursprüngen aus dem Nordosten Brasiliens ist es dagegen gerade das Soziale. Tradition (»so war es schon immer« oder hier eben »das hat nie dazu gehört«) ist für mich kein gutes Argument und gerade die Offenheit für Weiterentwicklungen macht den Forró auch aus. 

Mein Argument ist jedoch, dass wir mit Wettkämpfen ein Stück von der Besonderheit des Forró verlieren. Eine Besonderheit, gerade bezüglich von Verbindungen und Gemeinschaft, die vielen anderen Tänzen schon abhandengekommen ist und die auf den Forró für Neulinge gerade auch aufgrund dieses Kontrastes eine große Anziehungskraft ausübt. Forró ist (im Gegensatz zu den Standardtänzen) meiner Meinung nach kein Sport, zumindest nicht in erster Linie. Das Tanzen beim Forró ist eher introvertiert (zumindest vom Tanzpaar aus gesehen), nicht extrovertiert. Es geht um das Gefühl, nicht um Show. Gefühl lässt sich jedoch, wenn überhaupt von den Tanzenden selbst einordnen. 

Eine gute Tanztechnik sorgt häufig auch für ein besseres Gefühl bei beiden, aber eben nicht automatisch. Im Wettkampf geht es nicht um das Gefühl der Tanzenden, sondern um das Gefühl der Beurteilenden. Das ist es, was ich mit extrovertiert meine und was, meiner Meinung nicht zum Forró passt.

Bessere Tanztechnik durch Wettkämpfe?

Ich höre oft das Argument, dass die Entwicklung der Tanztechnik durch Wettkämpfe (und Prüfungen wie bei Pé Descalço) profitiert. Das mag zwar zum Teil stimmen, allerdings auch nur, weil definiert wird, was als richtig und was als falsch gilt: Wettkämpfe bewirken primär eine Standardisierung der Tanztechnik, wodurch bestimmte Techniken sicher präziser gelernt und gelehrt werden können. Das größtenteils standardisierte Konzept der Tanzschulen-Kette Pé Descalço ist ein wunderbares Beispiel. ABER: wer entscheidet, welche Technik angestrebt wird? Die Zuschauenden, die Punktrichter, die Prüfenden. Ist aber ein unspektakulärer Tanz, der sich gut anfühlt, weniger wert als ein spektakulärer Tanz? Sollte eine technisch perfekt nach dem Lehrbuch getanzte Vorführung mehr Punkte bekommen als eine kreativ-intuitive Auslegung? In den Augen der Tanzenden wohl eher nicht, in den Augen der Bewertenden wohl eher schon. 

Forró lebt für mich von einem Pluralismus an Philosophien, an technischen Interpretationen und verschiedenen Theorien, wie getanzt werden kann. Ich glaube, dieser Pluralismus ist gerade als Alleinstellungsmerkmal auch ein Vorteil gegenüber Standardisierung. Ich sehe sowohl bei den Tänzerinnen (z. B. Leticia, Camila Alves, Yse, Juzinha, oder Sarah Collins – um nur ein paar zu nennen) als auch bei den Tänzern (z. B. Lucas Dumont, Rafa Wilker, Daniel Marinho, Ardyson oder Luis Dali) so viel fantastische Diversität, die ich weder vergleichen noch missen möchte. Es ist ein bisschen, als würde man diese verschiedenen Tanzphilosophien gegeneinander ausspielen. Der Forró bedient nicht nur (und vermutlich nicht mal hauptsächlich) Kriterien, die sich unter Schönheit zusammenfassen lassen. 

Ich finde es trotzdem cool, wenn Lehrende auf Festivals vortanzen, weil schon irgendwie Einblicke in die Philosophien bekommt. Insbesondere, wenn diejenigen sich die Lieder und Tanzpartner*innen nicht selbst aussuchen. Ich liebe es auch einfach den Leuten auf der Tanzfläche zuzusehen und baue das bewusst in meine Tanzabende ein. Aber ich finde einfach die Beurteilung – das Erstellen einer ‚offiziellen‘ Rangordnung – kritisch. Wer möchte, kann das in seinem eigenen Kopf machen – dann pickt man sich nämlich nicht die Vorbilder heraus, welche die anderen einem vorgeben, sondern diejenigen, deren Philosophie einen berührt. 

Man bekommt was man vorlebt!

Entscheidend ist aber für mich das Argument, dass Wettkämpfe den Vibe, die Stimmung unserer Forró-Abende und die Idee des Forró verändern. Sicher lässt sich ein solcher Wettbewerb (ähnlich wie die öffentlich sehr wirksamen Prüfungen bei Pé Descalço) gut verkaufen und erregt Aufsehen. Aber ist es diese Sensationslust, mit dem wir die Leute zum Forró locken wollen?

Ich glaube, dass Wettkämpfe den Forró langfristig weniger anfängerfreundlich, weniger herzlich, mehr standardisiert und spektakulärer machen. Wollen wir wirklich unsere Forró-Abende mit dem Wettkampfgedanken belasten? Ich bin kein Fan davon, dass man in letzter Zeit häufiger von Forró-Wettbewerben mitbekommt. Ich bezweifle ganz einfach, dass wir dadurch Energie, gute Laune, Zusammenhalt und Stimmung gewinnen. 

Aber was weiß ich schon? Ich warte auf Deine Erfahrungen und Gedanken zum Thema in den Kommentaren!

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Responses

  1. Super Blogbeitrag, Philip! Danke dafür, dass du so klare Worte für (auch) mein Unbehagen als Zuschauende*r bei Forró-Wettkämpfen gefunden hast!

    Ich hatte noch einige Gedanken zu drei weiteren Teilaspekten von Forró-Wettkämpfen:
    1. dem Dilemma der Zuschauenden
    2. dem Rahmen von Forró-Wettkämpfen
    3. Forró-Wettkämpfen als Chance

    1. Selbst wenn man sich als Zuschauende nicht offiziell in der Beurteilungsrolle befinden sollte, so wird man durch die bloße Anwesenheit in eine Zwickmühle gebracht: Wann klatscht man bzw. für wen oder was? Und wie viel?
    Wenn man alle Tanzenden anfeuern und gleichwertig für das Tanzen selbst feiern will, müsste man für alle gleich viel und zum gleichen Zeitpunkt klatschen. Aber das lässt sich als Publikum kaum koordinieren, sodass der Applaus unweigerlich bei einigen mehr anschwellen wird als bei anderen. Die Alternative wäre, nicht zu klatschen. Aber dann würde die Wärme und Wertschätzung, die ich beim Forró so zentral finde, ausdrücklich fehlen.
    Diesem Dilemma kann man sich nur schwer entziehen, wenn der Wettbewerb öffentlich stattfindet z.B. im Rahmen eines Festivals. Anstelle dieser Widerspruchslösung, die von den Festivalteilnehmenden fordert, dass die sich aktiv vom Programm entfernen, würde ich eine Zustimmungslösung bevorzugen, in der Wettbewerbe nicht fest zum Programm gehörten, sondern als separate und optionale Teilveranstaltung ausgerichtet würden für diejenigen, die explizit daran interessiert sind.

    2. So kritisch ich den öffentlichen Wettbewerb im Forró auch sehe, so möchte ich Forró-Wettkämpfe doch nicht vollständig abschreiben, solange sie in einem angemessenen Kontext stattfinden. Ich selbst habe eine Art Wettbewerbs-/ Prüfungssituation im Forró miterlebt, die ich als zweckmäßiger empfand: Im Rahmen eines Intensiv-Lernwochenendes für Forró Universitário wurden alle Teilnehmenden nach dem Mix & Match-Prinzip dazu aufgefordert, der Reihe nach zuvor gemeinsam erarbeitete Figuren/Techniken vorzutanzen. Dabei wurden sie durchweg von den anderen Teilnehmenden angefeuert und haben im Anschluss privat Feedback von den Workshopleitenden erhalten.
    Was machte diese Form des Wettbewerbs für mich anders, im Sinne von akzeptabler?
    – Alle nahmen teil und zwar im Wissen, worauf sie sich einlassen würden, hatten sie sich doch mit der Anmeldung für das Lernwochenende aktiv dafür entschieden (Stichwort Consent)
    – Der Fokus des Lernwochenendes lag auf Technik, und der Wettbewerb/ die Prüfungssituation diente der Wiederholung und Einschätzung des Lernfortschrittes
    – Die Bewertung erfolgte nicht öffentlich und hatte außerhalb des Workshopwochenendes keine Reichweite

    3. In all diesen Ausführungen mag der Eindruck entstanden sein, dass Wettbewerb im Forró nur im Turniersinne stattfindet, bei dem extrovertiert getanzt und dieses von einer Jury vergleichend beurteilt wird. Was wäre aber, wenn es eine Form des Wettbewerbs gäbe, die zwar extrovertiert ist, die aber nicht primär dem Beurteilen, Vergleichen und Hierarchisieren gilt? Was ist, wenn der „Wettbewerb“ dem kreativen Austausch und dem Feiern der Vielfalt des Tanzens gelten könnte?
    Eine solche Form des „Wettkampfes“ existiert für mich u.a. in einer Variante der „Dance Battles“: Ein Tanzpaar präsentiert etwas z.B. eine Figur ggf. auch vor Publikum. Dieser Vorschlag wird von einem anderen Tanzpaar aufgegriffen, um- bzw. weiterinterpretiert und durch deren eigenen Tanzvorschlag ergänzt. Im nächsten Turn antwortet entweder erste Tanzpaar oder ein neues Tanzpaar.
    Ist das eine Form des extrovertierten, kompetitiven Tanzens? Durchaus, aber eine in der das kommunikative, wertschätzende Miteinander und das Feiern der Vielseitigkeit des Forrós integraler Bestandteil sind.

    Wenn wir die schon oder noch aufkommenden Wettkämpfe in unseren Forró integrieren wollen, dann sollten wir uns bewusst dafür entscheiden, in welcher Form und in welchem Rahmen wir sie willkommen heißen. Damit sie den sicheren Raum und die herzliche Tanzkultur des Forrós nicht verkleinern, sondern bereichern.

    Ich bin gespannt auf deine und andere weiteren Gedanken zu diesem Thema!

    Liebe Grüße, Zhen Zhen

    1. Hi Zhen Zhen!
      Danke für Deinen ausführlichen Kommentar!
      Zu 1.): Sehe das ähnlich. Ich bin auch von gesonderten Veranstaltungen für Forró-Wettkämpfe kein Fan. Ich gebe zu, ich fände es ein etwas kleineres Übel, als das während der Partys zu machen. Dadurch stört man das Social Dancing immerhin nicht direkt, aber meine anderen Argumente gelten da auch immer noch. Das verändert immer noch die Einstellung dahingehend, was Forró ist und warum wir das tanzen.

      Zu 2.): Interessanter Punkt. Lehrende sind ja immer am Bewerten, weil sie begutachten, was verbessert werden kann. Das finde ich schon ein anderes Paar Schuhe! Bestimmt wurden da auch keine Aussagen darüber getroffen, inwiefern die einen Tänzer*innen besser als die anderen waren, oder? Sondern es wurde vermutlich bewertet (im privaten – schreibst Du ja), was gut und was verbesserungswürdig ist. Nichtsdestotrotz, war Dein Argument, dass es ggf. einen Wettbewerb geben kann, der ‘Forró-like’ ist. Mir fällt es schwer, mir da einen halbwegs realistischen auszumalen. Selbst wenn mir die Idee Deines 3. Punkts als Out-of-the-Box Idee gut gefällt..! Und ich kann natürlich auch nicht ausschließen, dass es so etwas geben kann!!
      Zu 3.): Dance Battles finde ich grundsätzlich eine interessante Idee. Man könnte das Aufgreifen von Ideen bewerten – aber egal was wir am Ende bewerten, das, worum es beim Forró am meisten geht, das Gefühl im Tanzpaar, kann man eben nicht extern bewerten. Wenn etwas anderes bewertet wird, dann suggeriert das, dass es hauptsächlich darum geht. Man könnte sich vielleicht ausdenken, dass man bei Wettbewerben mit mehreren Tänzer*innen tanzt, die alle ihre Tanzpartner*innen dann bewerten (nach Gefühl, Spaß, Musikalität, etc.). Dann ginge es eventuell mehr um diese introvertierten Werte – allerdings stelle ich mir auch diese Bewertung als merkwürdig und unlocker vor. Das hätte den Eindruck von “man muss dem Partner/der Partnerin etwas bieten”, statt “man erschafft zusammen einen Tanz, bei dem sich beide gut fühlen und Spaß haben”.
      Ich finde, Dance-Battles gingen auch ohne Bewertung, sodass alle gefeiert werden. Vielleicht auch mit dem Aufgreifen von Vorschlägen, etc.?! Schon alleine die Musik kann ja von unterschiedlichen Leuten unterschiedlich aufgegriffen werden, was wieder interessant ist um verschiedene Philosophien zu begutachten. Ich würde sagen, in diese Richtung sind auch schon einige Teacher-Presentations gegangen, bei denen sich die Tanzpaare abgelöst haben oder die Partner*innen gewechselt wurden.
      Muss das zwingend während der Party passieren? Ich weiß es nicht – bei meinen Events eher nicht – aber ich finde da spricht deutlich weniger dagegen, gerade wenn man es im Rahmen von Workshop & Co macht, gerade weil der Fokus da eben mehr auf Inspiration denn auf Battle liegt.

      Danke nochmal für Deine interessanten Gedanken und liebe Grüße nach Aachen
      Philip

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